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Jahresausblick

Konjunkturausblick: Wolken über der Inflationsspitze


Im Überblick

  • 2022 ist der Beginn einer neuen Ära der Geldpolitik. Ende 2022 hat die Inflation ihren Höchststand erreicht. Der Preis für ihre Eindämmung ist offenbar eine durch die Geldpolitik ausgelöste Rezession.
  • Wegen der höheren Zinsen wird die Fiskalpolitik nach und nach straffer werden müssen. In den USA herrscht nach den Zwischenwahlen ein politisches Patt. In Europa stehen für die erste Hälfte des Jahres 2023 zwar weitere Staatsausgaben auf dem Programm, um die Folgen der Inflation einzudämmen, aber aus unserer Sicht werden sie das letzte Aufbäumen der expansiven Fiskalpolitik sein.
  • 20 Jahre lang hat die expansive Geld- und Fiskalpolitik verschleiert, dass das Potenzialwachstum nachlässt. Ein neues Wachstumskonzept ist notwendig, liegt aber in weiter Ferne.

Die unmittelbaren Folgen der zu erwartenden Disinflation

Der Inflationsschock hat das Jahr 2022 bestimmt. Anders als sonst üblich hat die Inflation aber nicht etwa dafür gesorgt, dass die niedrigere Kaufkraft und schwindende Unternehmensgewinnmargen Konsum und Investitionen bremsten – der private Verbrauch war in den Industrieländern angesichts der Lage sogar erstaunlich stabil. Maßgeblich war vielmehr, dass sie das Ende einer geldpolitischen Ära eingeläutet hat.

Nachdem die Zentralbanken die nur zu deutlichen Zeichen übersehen hatten und die für vorübergehend gehaltene Teuerung nach dem Wiederanlaufen der Wirtschaft nach der Pandemie zu einer handfesten Inflation geworden war, hoben sie ihre Zinsen so schnell an wie seit den 1990er-Jahren nicht mehr. Im Zuge der Aufholjagd wurde die noch immer sehr expansive Geldpolitik der US Federal Reserve (Fed) in nur etwa einem halben Jahr eindeutig restriktiv. In Kombination mit der quantitativen Straffung hat dies zur stärksten Verschlechterung der Finanzbedingungen seit der internationalen Finanzkrise 2008/2009 geführt.

Eigentlich hätten nicht alle Zentralbanken der Fed folgen müssen. Die USA haben nach den übermäßigen Staatsausgaben gegen Ende der Amtszeit von Donald Trump und zu Beginn der Biden-Administration eindeutig mit einer Überhitzung zu kämpfen. Der Arbeitsmarkt war extrem eng und litt unter der niedrigeren Partizipationsquote. Der Euroraum war während der Pandemie weniger ausgabefreudig, und hier steigt die Partizipationsquote. Bei den 15- bis 64-Jährigen ist sie jetzt höher als in den USA. Dennoch ist die Europäische Zentralbank (EZB) der Fed mehrmals gefolgt, beispielsweise bei der Entscheidung, die Zinsen um 75 Basispunkte zu erhöhen. Sicherlich werden die Euroraum-Zinsen im Dezember 2022 die „neutrale“ Spanne von 1% bis 2% nicht überschreiten, aber sie waren anfangs auch niedriger als in den USA. Wir gehen allerdings davon aus, dass dies im 1. Quartal 2023 geschieht und der Leitzins dann bei 2,5% liegen wird. Angesichts der höheren Kreditzinsen der Banken hat die EZB aus unserer Sicht mit ihrer Geldpolitik schon jetzt für straffe Finanzbedingungen gesorgt. Nach wie vor wird die Euroraum-Inflation von der Angebotsseite (insbesondere den Gaspreisen) bestimmt, die von der Geldpolitik kaum beeinflusst werden kann. Dennoch konzentriert sich die EZB ausdrücklich darauf, die Inflationserwartungen zu bremsen. Wir vermuten aber, dass vor allem die Euroabwertung der Grund für ihren neuen restriktiven Standpunkt ist.

Tatsächlich passt sich die Weltwirtschaft an einen von der Geldpolitik der Fed in die Höhe getriebenen starken US-Dollar an. Auch dies weckt vage Erinnerungen an die 1990er-Jahre.  Dabei zählt die EZB zu den Zentralbanken, die davon am wenigsten betroffen sind.  Ihre Pendants in den Emerging Markets müssen dagegen viel stärker reagieren und tun dies auch. In einigen Ländern wie Brasilien und Ungarn sind die Leitzinsen um insgesamt mehr als 1.000 Basispunkte angehoben worden. Systemische Risiken in den Emerging Markets bereiten uns keine übermäßigen Sorgen. Ihre Finanzlage ist erheblich besser als in den 1990ern. Allerdings wird eine extreme Straffung der Geldpolitik die Inlandsnachfrage erheblich dämpfen, vor allem, weil sich die Fiskalpolitik auf steigende Refinanzierungskosten der Staatsschulden einstellen muss. Auch hier ist Brasilien ein Beispiel. In Ländern, die sich gegen einen Schutz ihrer Währungen entschieden haben und, wie die Türkei, das Problem mit Zinssenkungen angegangen sind, herrscht Hyperinflation.

China ist die einzige große Ausnahme. Trotz Abwertung der Währung konnte Peking aufgrund der niedrigen Inflation seine Geldpolitik lockern. Dennoch zögern die chinesischen Behörden ihren noch immer großen geldpolitischen Spielraum auszuschöpfen, weil sie befürchten, dass dann die Finanzen wieder instabiler werden. Außerdem erfolgt die Abkehr von der Null-COVID-Politik wenn überhaupt nur zögerlich, sodass es im nächsten Jahr vermutlich zu weiteren pandemiebedingten Wachstumsstörungen kommen wird. Aus unserer Sicht wird der Beitrag Chinas zum Weltwirtschaftswachstum eher klein bleiben.

Aus all diesen Gründen befinden wir uns in einer Lage, die wir seit Jahrzehnten nicht mehr hatten: in einem von der Geldpolitik ausgelösten Abschwung der Weltwirtschaft. Wie lange und wie stark die Zinsen weiter gesenkt werden, hängt natürlich davon ab, wie schnell die Inflation in den USA zurückgeht, die das eigentliche Problem ist. Im Herbst 2022 gab es erste Anzeichen dafür, dass der Arbeitsmarkt nachlässt. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, dürften die Löhne bis ins Jahr 2023 hinein fallen. Und das ist es, was die Fed möchte. Die Inflation hat vermutlich ihren Höhepunkt überschritten, sodass die Zinsen weniger stark angehoben werden könnten, aber noch ist das Ziel so weit weg, und die Risiken einer weiteren Abweichung sind so hoch, dass der „Endzins“ noch nicht erreicht ist. Er wird aus unserer Sicht bei 5% liegen. Weil es Zeit braucht, bis sich dies in der Realwirtschaft niederschlägt, dürfte die Geldpolitik 2023 vermutlich restriktiver sein als in der zweiten Jahreshälfte 2022.  Diese Annahme beruht auf unserer Überzeugung, dass die Fed ihre Zinsen nicht so schnell wieder senken wird, wie der Markt dies zurzeit vermutet (zweite Jahreshälfte 2023), weil sie sicher sein will, dass die Inflation wirklich besiegt ist. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist eine Rezession in den ersten drei Quartalen 2023 in den USA, mit den üblichen negativen Folgen für die Weltwirtschaft während des gesamten nächsten Jahres.

Häufig bestimmt die Erinnerung an Fehler in der Vergangenheit die Entscheidungen der Geldpolitik.  So wie Ben Bernanke nach der internationalen Finanzkrise 2008/2009 um jeden Preis verhindern wollte, die Zinsen zu früh anzuheben, wie es in den 1930ern geschehen war, will Jerome Powell jetzt auf keinen Fall den Fehler aus dem Jahr 1974 wiederholen. Tatsächlich reagierte die Fed entgegen der allgemeinen Erwartungen auf den ersten Ölschock im Jahr 1973 mit einer schnellen Anhebung der Leitzinsen. Die schicksalhafte Entscheidung erfolgte aber Ende 1974, als die Fed, besorgt wegen des starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit, einen Kurswechsel einleitete, obgleich die Inflation noch immer über 10% lag. Dies war der Anfang einer galoppierenden Inflation in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, die die Fed 1980 am Ende zu einer enormen Straffung zwang.

In gewisser Weise ist das, was jetzt vor uns liegt, ein Spiegelbild der aktionistischen Geldpolitik der letzten 20 Jahre. Die Zentralbanken mussten damals zu dem Schluss kommen, dass sie die Inflation nur dann von nahe null auf das von ihnen angestrebte Niveau zurückbringen könnten, wenn sie die Wirtschaft heiß laufen lassen, also weit über Potenzial. Heute sind sie überzeugt, dass die Inflation nur dann wieder auf 2% zurückgehen kann, wenn sie die Nachfrage so stark senken, dass trotz des niedrigen Angebots ein Angebotsüberhang besteht. Wer gewinnen will, muss leiden.

Das letzte Aufbäumen der lockeren Fiskalpolitik

Während die Geldpolitik auf beiden Seiten des Atlantiks die gleiche Richtung eingeschlagen hat, läuft die Fiskalpolitik auseinander. In den USA wird der Inflation Reduction Act, der eigentlich ein Energiewendegesetz ist, vermutlich das letzte große Investitionsprogramm unter Biden sein. Die Republikaner haben die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewonnen, sodass jetzt wahrscheinlich für mindestens zwei Jahre ein politisches Patt herrschen wird. Aber das könnte zurzeit für die USA genau das sein, „was der Arzt verschreibt“. Die Fiskalpolitik hat keinen Grund zu versuchen, die Pläne der Fed zu durchkreuzen. Die Binnenwirtschaft überhitzt bereits. Im Euroraum sieht das ganz anders aus. Hier planen die Regierungen neue Finanzhilfen, um die Folgen der aufgrund des Ukrainekrieges höheren Energiepreise für Privathaushalte und Unternehmen abzufedern.

Dennoch könnten Geld- und Fiskalpolitik in Europa durchaus Hand in Hand gehen. Die Privathaushalte erhalten vorübergehende Finanzhilfen von der Regierung, sodass der Lohndruck möglicherweise sinkt. Damit geht das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale zurück, die die EZB zu einer noch stärkeren Straffung zwänge. Zu Problemen könnte es aber in der zweiten Jahreshälfte 2023 kommen, weil mögliche umfangreiche Staatsanleihenemissionen der Entscheidung der EZB entgegenstünden, die Erlöse der während des Quantitative Easing gekauften Anleihen nicht wieder neu zu investieren. Selbst wenn das europäische Finanzkontrollsystem eine weitere Verlängerung der Ausnahmeregelung für den Abbau des Defizits zulassen sollte, gehen wir davon aus, dass die Verschwendung mit den Haushaltsentwürfen für 2024, die ab Sommer 2023 diskutiert werden, zu Ende sein wird.

Auf der Suche nach einem Wachstumskonzept

In den letzten 20 Jahren haben Geld- und Fiskalpolitik häufig die angesichts der geringeren Produktivität und der ungünstigen Demografie fehlende Wirtschaftsdynamik in den Industrieländern verschleiert. In einigen Ländern, und ganz sicher in den USA, behindert auch der Rückgang der Partizipationsquote das Potenzialwachstum. Jetzt, da die Geld- und Fiskalpolitik nachlässt, werden diese strukturellen Probleme in den Mittelpunkt treten.

Hier sind die jüngsten Entwicklungen in Großbritannien interessant. Auch wenn der Plan inhaltlich sehr zu wünschen übrig ließ – im Voraus festgelegte, nicht gegenfinanzierte Steuersenkungen in Verbindung mit vagen Strukturreformversprechen –, so hat die Regierung von Liz Truss doch zumindest versucht, etwas gegen den Rückgang des Potenzialwachstums zu tun. Die fiskalpolitische Kehrtwende der Sunak-Regierung ist in puncto Finanzstabilität sicherlich gut, was aber fehlt, ist ein Plan, um die Wirtschaft wieder zu beleben.

Neben den bestehenden Konjunkturproblemen kommt das Risiko einer Greenflation hinzu – die notwendige Bekämpfung des Klimawandels erfordert sauberere Technologien, die allerdings in der Regel teurer sind. Zugleich gehen wir davon aus, dass sich auch Länder außerhalb der EU für eine Form der CO2-Bepreisung entscheiden werden. Auch die Deglobalisierung ist ein Risiko, vor allem für Länder wie Deutschland, deren Wachstum vor allem vom Außenhandel abhängt. Die USA sind vermutlich in einer besseren Position als Europa. Hier ist die Demografie (noch) ein kleineres Problem, und das Land kann sich zumindest auf billige, selbst produzierte Energie verlassen. Während der Pandemie ist es der Europäischen Union gelungen, ihrer langfristigen Wachstumsstrategie Substanz zu verleihen, indem sie das Tabu der Vergemeinschaftung von Schulden gebrochen und die „Next Generation“-Programme aufgelegt hat.  Uns beunruhigt, dass es die Mitgliedsstaaten nicht geschafft haben, genauso entschlossen mit gemeinsamen Investitionen auf die Folgen des Ukrainekrieges zu reagieren.

Wir sind zuversichtlich, dass die Weltwirtschaft 2023 wieder Fahrt aufnehmen wird, aber wir warnen vor übertriebenem Enthusiasmus. Nach der Erholung der Konjunktur bleiben viele grundsätzliche Fragen offen.

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