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ESG-Risiken bewerten – oder nicht?


Die ESG-Risiken eines Unternehmens – ökologische, soziale und governancebezogene Faktoren – werden in der Investmentbranche unterschiedlich bewertet. Eigentlich ist eine Standardisierung ja auch kaum möglich, denn sie sind nicht leicht zu quantifizieren. Daher sind sie meist nur unvollständig in den Kursen berücksichtigt. In der Regel bedeuten niedrigere Portfoliorisiken zwar niedrigere Renditen,  aber bei einem aktiven, dynamischen und vorausschauenden verantwortlichen Investmentansatz kann es auch anders sein. Wenn ESG-Risiken und -Erträge nicht vollständig in den Kursen enthalten sind, können ESG-Investoren Mehrertrag erzielen. Dazu müssen sie ESG-Risiken ähnlich analysieren wie die traditionellen Kredit-, Zins- und Konjunkturrisiken. ESG-Investoren helfen damit nicht nur der Menschheit und unserem Planeten, sondern investieren auch in die auf Dauer performancestärksten Titel – weil ESG an Bedeutung gewinnt und zunehmend in die Kurse einfließt.

Kein Trade-off 

Noch immer fragen sich viele Investoren und Marktbeobachter, ob man mit einer „verantwortlichen“ Investmentstrategie auf Performance verzichtet. Oft wird ein negativer Trade-off zwischen ESG-Performance und Ertrag unterstellt. Natürlich sehen meine Kollegen bei AXA Investment Managers und ich das völlig anders. Wir glauben, dass nachhaltige Unternehmen langfristig am erfolgreichsten sind. Nachhaltigkeit bedeutet nämlich, Risiken zu verringern, die der Finanzperformance stark schaden können. Hinzu kommt, dass ein nachhaltiger Investmentansatz auf Unternehmen setzt, deren Wachstum umwelt- und sozialverträglich ist und die für ökologischen und sozialen Fortschritt sorgen. 

Ertrag und Risiko 

Nicht finanzielle Gründe für Anlagen in Unternehmen, die unserem Planeten und der Menschheit nur wenig schaden und zu einer saubereren Umwelt, nachhaltigerem Ressourceneinsatz und mehr sozialer Gerechtigkeit beitragen können, gibt es zuhauf. Wir sehen aber auch eine Reihe finanzieller Gründe. Letztlich geht es immer um Chancen und Risiken. So einfach ist das. Grundsätzlich gilt, dass die Ertragserwartungen einer Anlage zu den Risiken passen sollten – zu Kredit-, Inflations- und Konjunkturrisiken, Gewinnrisiken, rechtlichen Risiken und vielen anderen mehr. Außerdem müssen die erwarteten Erträge umso höher sein, je höher die Risiken sind. Deshalb können die Ertragserwartungen von High-Yield-Anleihen höher sein als die von Staatsanleihen. An einem effizienten Markt sollten die Erträge den Risiken entsprechen, sodass Investoren rationale Allokationsentscheidungen treffen können. Investoren interessiert, wie sich die Risikobewertung im Laufe der Zeit ändert. Viel ist etwa darüber geschrieben worden, wie man die Risikoprämie von Aktien schätzen kann und welcher Zusatzertrag für die diversen Risiken – Gewinnqualitäts-, Management- und Konjunkturrisiko – angemessen ist. Aktive Anlagestrategien beruhen auf der Annahme, dass Märkte nicht vollkommen effizient sind und es zu Verzerrungen kommt, sodass die zu erwartenden Erträge vom Risikoprofil der Anlage abweichen. In vielen Ländern sind die Staatsanleihenkurse durch die Käufe der Notenbanken verzerrt, sodass die erwarteten Erträge für die aktuellen Risiken – Inflations-, Zins- und Ausfallrisiko – zu gering sind. Deshalb werden Staatsanleihen seit einigen Jahren oft untergewichtet.

Können wir es bewerten? 

Interessant ist, ob ESG-Risiken in den Kursen berücksichtigt sind oder ob die höheren Risikoprämien von Wertpapieren mit einer niedrigen ESG-Punktzahl nur ihrer insgesamt niedrigeren Qualität oder ihrem generell höheren Risiko geschuldet sind. Ich persönlich glaube, dass ESG-Risiken nicht berücksichtigt sind, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens sind ESG-Analysen von Unternehmen noch etwas sehr Neues. Wir kennen einfach noch nicht genug Beispiele, um zu wissen, auf welche Signale, Auslöser und Reaktionen wir achten müssen. Zweitens fehlt es noch immer an einem einheitlichen Standard für ESG-Analysen. Die Investoren nutzen unterschiedliche Datensätze, die Faktoren werden verschieden gewichtet, und viele ESG-Risiken lassen sich nur schwer messen. Drittens lässt sich die Relevanz von ESG-Risiken nicht gut erfassen. Manchmal ist es einfach: Ein CO2-intensives Unternehmen in Europa hat höhere Kosten, wenn es Emissionsrechte kaufen muss. Das ist ein klares, messbares und relevantes Risiko, das sich auch in Finanzmodellen abbilden lässt. Aber nicht alle ESG-Risiken sind derart offensichtlich. Wir können aber davon ausgehen, dass Unternehmen in Zukunft eine CO2-Steuer zahlen müssen oder strenger reguliert werden, was ebenfalls zu höheren Kosten führt. Vielleicht investieren sie auch zu wenig in neue Technologien für die Energiewende. Solche Risiken müssen Investoren zweifellos berücksichtigen. Aber es ist nicht einfach, ihre Auswirkungen auf die zukünftige Finanzentwicklung zu modellieren. Bei sozialen Faktoren ist die Quantifizierung sogar noch schwieriger. Qualitativ lässt sich erfassen, ob einem Unternehmen rechtliche Schwierigkeiten drohen, ob sein Markenwert unter Menschrechtsverletzungen seiner Zulieferer leidet oder ob die Geschäftsaktivitäten soziale Schäden anrichten. Die Wahrscheinlichkeit großer Auswirkungen auf Gewinne und Kreditqualität ist aber nicht leicht zu berechnen. Es gibt unterschiedliche ESG-Risiken – und mehr als eine Möglichkeit, sie zu bewerten, zu gewichten oder zu messen, um die Auswirkungen auf die Risikoprämie zu erfassen. 

Das Beispiel Energie 

Dennoch gibt es mitunter deutliche Kursunterschiede aufgrund von ESG-Faktoren. Nehmen wir den Energiesektor als Beispiel. Am ICE/Bank of America Merrill Lynch (BofAML) Global Corporate Bond Index hat er einen Anteil von 8%. Seine Yield to Worst beträgt zurzeit 2,20% gegenüber einer durchschnittlichen Indexrendite von 1,7% (bzw. 1,5% ohne Energie). Die Rendite von Energieanleihen ist also höher als die Rendite anderer Anleihen. Im Grunde genommen war das nie anders, und vielleicht haben die höheren Renditen mehr mit der Konjunkturabhängigkeit der Gewinne und der hohen Verschuldung des Energiesektors zu tun. Vielleicht gab es aber auch schon immer irgendeine CO2-Risikoprämie, aber das kann ich nicht beweisen. Noch extremer ist es am High-Yield-Markt, wo die Risiken größer sind und deshalb höhere Erträge gefordert werden. Hochverzinsliche US-Energieanleihen bieten zurzeit 5,13% Rendite gegenüber einem Indexdurchschnitt von 4,20% (bzw. geschätzte 3,5% ohne Energie). Noch viel größer wurde der Renditeaufschlag hochverzinslicher Energieanleihen 2014, als die USA mehr Schieferöl und Schiefergas förderten und Ölexplorationsunternehmen mehr Anleihen begaben. Auch hier stehen höhere Renditen für höhere Unternehmensrisiken. Allerdings könnte es damals ein intrinsisches CO2-Risiko oder eine generelle Umweltrisikoprämie gegeben haben. Möglicherweise ist das heute auch der Fall.      

Niedrigere Finanzierungskosten bei grünen Anleihen 

Betrachten wir es von der anderen Seite. Das Stichwort heißt „Greenium“. Emittenten grüner Anleihen haben niedrigere Finanzierungskosten als Emittenten gewöhnlicher Anleihen. Eine grüne Anleihe hat konstruktionsbedingt und aufgrund der Erlösverwendung ein niedrigeres Umweltrisiko. Indem die Investoren eine niedrigere Rendite akzeptieren, begnügen sie sich mit einem niedrigeren Ertrag für ein geringeres Risiko. Auf einer abstrakten Risiko-Ertrags-Grafik wären grüne Anleihen weiter unten links platziert als klassische Anleihen mit ESG-Risiken, selbst wenn sie von demselben Emittenten stammen. Der ICE/BofAML Green Bond Index hat eine Rendite von 0,76% bei 8,14 Jahren effektiver Duration, während die Rendite des Global Aggregate 7–10 Year Index bei 7,62 Jahren Duration (und einem im Durchschnitt höheren Rating) 1,18% beträgt. Wegen solcher Durationsunterschiede lassen sich Indizes nicht immer leicht vergleichen, aber der Renditeabschlag für niedrigere Umweltrisiken liegt auf der Hand. Interessant wird sein, wie sich der Markt für soziale Anleihen entwickelt. Hier ist eine Standardisierung schwieriger, und auch die Wahrscheinlichkeit großer sozialer Risiken lässt sich nicht so leicht abschätzen – auch wenn die Regulierungsrisiken bisweilen groß sind. Ich meine, dass die mit einer sozialen Anleihe eingeworbenen Mittel wirklich etwas bewirken können. Hier ist echter „Impact“ möglich: Fortschritte bei einem oder mehreren der UN-Nachhaltigkeitsziele und sozialer Fortschritt durch weniger negative Externalitäten. Dieser Ertrag zeigt sich mitunter nicht nur in der Rendite. Nicht anders ist es bei grünen Anleihen. Das eingeworbene Geld dient der Finanzierung der Energiewende, zu unser aller Vorteil.

Unzuverlässige Marktpreise 

Wer die ESG-Risiken eines Portfolios verringert, verdient kurzfristig vielleicht weniger, vor allem, wenn die aktuellen Kurse ESG-Risikoprämien enthalten. Verringert werden aber auch die Risiken für die zukünftige Performance. Wenn es bei einer höher verzinslichen Anleihe tatsächlich zu einem ESG-Problem kommt, dürfte der Investor Verluste deutlich über der ursprünglichen Mehrrendite hinnehmen müssen. Wenn die Aufsichtsbehörden Strafen verhängen, die Steuern angehoben werden oder die Nachfrage aufgrund umstrittenen Verhaltens einbricht, schadet das den Unternehmensfinanzen und dem Geschäftsmodell erheblich. Kursverluste sind die Folge. Wenn dadurch die Kapitalkosten für das Unternehmen steigen, muss es den Investoren im Wettbewerb mit risikoärmeren Titeln höhere Erträge in Aussicht stellen. Wenn wir bei der Beurteilung von ESG-Risiken dazulernen, dürften wir auch ihre Relevanz besser beurteilen und leichter mit den erwarteten Erträgen abgleichen können. 

Aktiv und verantwortlich 

Es ist unklar, ob ESG-Risiken in den Risikoprämien berücksichtigt sind oder es jemals sein werden. Viel spricht deshalb dafür, dass aktive Manager ESG-Analysen in ihren Investmentprozess integrieren sollten. Indem wir ESG-Faktoren anhand geeigneter Daten und mit passenden Methoden analysieren, können wir Nachhaltigkeitsrisiken bei Credits und Aktien ganzheitlicher erfassen. Wenn der Ausschluss von ESG-Risiken den zu erwartenden Portfolioertrag verringert, könnten Portfoliomanager allerdings versucht sein, andere Risiken zum Ausgleich anzuheben – in einem Anleiheportfolio etwa das Kredit-, Durations-, Währungs- oder Liquiditätsrisiko. Wenn man die ESG-Risiken aber auf Einzelwertebene analysiert, muss dies nicht so sein. Denn dann kann man auf Emittenten setzen, die in ihrer Branche vorbildlich sind. Man kann abschätzen, welche Bedeutung ESG-Richtlinien für das Unternehmen haben. Und man kann Einfluss auf das Management nehmen und es ermutigen, Emissionen zu verringern oder zum sozialen Fortschritt beizutragen. ESG-orientiertes Investieren ist stets zukunftsorientiert. Man investiert in Unternehmen im Wandel, die die Risiken ihrer eigenen Geschäftsmodelle kennen und bereit sind, sie auf Dauer zu verringern. Die Risikoprämie könnte fallen, aber Anleger könnten dann in nachhaltigere Unternehmen investieren und damit langfristig eine bessere Performance erzielen. Wer heute auf niedrige CO2-Emissionen setzt, verzichtet möglicherweise auf Energieunternehmen. Kurzfristig kann das der Performance schaden, wie es in diesem Jahr in manchen Ländern bereits der Fall war. Aber was passiert, wenn auf der COP26-Klimakonferenz in Glasgow in diesem Jahr CO2-Steuern eingeführt werden? Das könnte der Performance der größten CO2-Emittenten stark schaden. Dann lägen Portfolios ohne Energiewerte auch finanziell vorn, und nachhaltiger sind sie ohnehin. 

Impact durch weniger Risiko 

Kreditrisiken verstehen wir genau. Die Ratingagenturen nutzen eine Skala, deren Kriterien uns vertraut sind. Wir wissen auch, dass manche Aktien risikoreicher sind als andere, weil die Unternehmensgewinne hier stärker schwanken oder weil Beta, Momentum, Bewertung und andere Faktoren Auswirkungen auf die Kurse haben. Wir analysieren ESG-Risken intensiver als je zuvor. Assetmanager bemühen sich um das richtige Gleichgewicht zwischen Datenanalyse, qualitativer Analyse und Engagement. Als aktiver, nachhaltig orientierter Investor darf man sich nicht allein auf die Kurse verlassen. Man muss auch einschätzen, inwieweit sie zu den Risiken passen. Es gibt immer mehr ESG-Fonds. Manche verringern einfach nur die Risiken durch Ausschlüsse, andere setzen auf einen aktiven Ansatz mit klar definierten nicht finanziellen Zielen, um Impact zu erreichen. Bei keiner dieser Strategien muss man zwingend auf langfristigen Ertrag verzichten. Wenn man Nachhaltigkeitsfaktoren bei der Finanzanalyse berücksichtigt, führt dies meiner Meinung nach zu einer besseren Langfristperformance. Bisweilen heißt es, dass die nachhaltigsten Unternehmen auch die beste Perfomance erzielen. Aber das liegt meiner Ansicht nach daran, dass es sich auch um die besten Unternehmen handelt. Und das stimmt auch. Ließe die Geschäftsleitung die ökologischen und gesellschaftlichen Folgen der Unternehmenstätigkeit unberücksichtigt, informierte sie sich nicht über ihre Zulieferer und nähme sie das Humankapitalmanagement nicht ernst, zählte das Unternehmen wohl kaum zu den besten. Letztlich möchten Unternehmen, dass ihre Produkte gekauft werden und Investoren ihnen Kapital zur Verfügung stellen. Da wäre es unklug, ESG bei der Optimierung des Geschäftsmodells unberücksichtigt zu lassen. 

Gemischte Gefühle 

Wie üblich noch ein paar Worte zum Fußball. Ich bin traurig, dass Sheffield Wednesday letzte Woche in die League One abgestiegen ist, die dritte englische Liga. Am Ende fehlten zwei Punkte. Das Team war schon mit einer Hypothek in die Spielzeit gestartet, da ihm wegen einiger Ungereimtheiten außerhalb des Spielfelds Punkte abgezogen worden waren. Für Sheffield ist das nicht der erste Abstieg. Hoffen wir auf ein Comeback. Aber das Verhalten der Clubleitung ist wirklich traurig. Leider ist dies im Fußball zurzeit nicht selten und keinesfalls nur bei den sechs vorhandenen Super-League-Teams der Fall. Ein besseres Ende hatte Manchester United. Das Team wurde englischer Vizemeister und hatte die Europa League gewonnen – die Niederlage gegen Liverpool übersehe ich geflissentlich. Wäre ich Villarreal, würde ich alles tun, um früh in Führung zu gehen, und dann nur noch verteidigen. Manchester ist nämlich dafür bekannt, Rückstände aufzuholen. Ich hoffe aber, dass Manchester für Villarreal am Ende zu stark ist.

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