Wahlen in Europa und Frankreich: Update für Anleger
Bei den Europawahlen haben die Mitte-rechts-Parteien, aber auch Rechtspopulisten und Rechtsextreme erheblich gewonnen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rief daraufhin vorzeitige Wahlen zur Nationalversammlung aus. Unsere Anlageexperten analysieren den kurzfristigen Ausblick für die Politik und entwickeln mögliche Langfristszenarien. Außerdem beurteilen sie die Auswirkungen auf Anleihen und Aktien.
Gilles Moëc, AXA-Group Chief Economist
Die Neuwahl der Nationalversammlung führt zu großer Unsicherheit über die künftige französische Wirtschaftspolitik und vor allem die Staatsfinanzen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Der Zinsabstand zwischen französischen und deutschen Zehnjahresanleihen ist erheblich gestiegen, um etwa 30 auf 75 bis 80 Basispunkte. Anders als bislang üblich waren die französischen Renditen damit ähnlich hoch wie die spanischen.
Zum Glück sind die Renditen – wegen der nachlassenden Inflation in den USA – aber weltweit gefallen. Trotz des höheren Spreads sind die französischen Anleihenrenditen daher nicht wesentlich gestiegen. Nach wie vor liegen sie im Zehnjahresbereich bei 3,1% bis 3,2%. Der Spreadanstieg hat daher zunächst nur begrenzte Folgen für die französische und europäische Wirtschaft.
Das ändert aber nichts an den hohen Verlusten französischer Bankaktien. Die Titel der großen Institute gaben in der Woche nach der Parlamentsauflösung um 10% bis 15% nach. Der Verlust war zwar auch den vorangegangenen hohen Kursgewinnen geschuldet, weckte aber Zweifel am Kreditangebot der Banken nach dem Spreadanstieg. Laut Banque de France könnten derart starke Kursverluste die Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte um etwa 20 Milliarden Euro verringern, mit potenziell großen Folgen für die Konjunktur.
Umfragen zufolge wird keiner der großen Blöcke eine klare Mehrheit in der neuen Nationalversammlung haben, die extreme Rechte ebenso wenig wie die Zentristen oder die Linken. Die voraussichtlich unklaren Mehrheitsverhältnisse machen das Regieren nicht leichter, zumal das semipräsidentielle Regierungssystem eigentlich eine klare Parlamentsmehrheit vorsieht. Die möglichen Wahlausgänge –Übergangsregierung, Mehrheit der extremen Rechten, Mehrheit der Linken – hätten unterschiedliche Folgen für Staatsfinanzen und Märkte.
Die Unsicherheit über den Wahlausgang und die Regierungsbildung weckt Zweifel an der Stabilität der Staatsfinanzen und der Wirtschaft – und das in einer Zeit, in der Frankreich unabhängig vom Ergebnis den Staatshaushalt konsolidieren muss. Die komplexe Lage, vor allem bei unklaren Mehrheitsverhältnissen, könnte auch die Einhaltung der europäischen Haushaltsregeln erschweren, was die europäische Währungsunion destabilisieren könnte. Wie wird die EZB mit höheren Anleihenspreads umgehen? Sie darf zwar Staatanleihen kaufen, allerdings nur, wenn die Haushaltsregeln eingehalten werden. Sowohl die extreme Rechte als auch die Linken lehnen das aber explizit ab.
Die derzeitige Unsicherheit und ihre möglichen Folgen für Märkte und Finanzstabilität zeigen, wie wichtig pragmatische und kreative Lösungen sind. Die staatlichen Institutionen und der Budgetprozess dürften trotz allem weiter funktionieren, aber die Lage wird wohl noch länger schwer einzuschätzen sein.
Chris Iggo, CIO, Core Investments
Der Zinsabstand zwischen französischen und deutschen Staatsanleihen hat sich nach der Neuwahlankündigung bei 75 bis 80 Basispunkten stabilisiert. Die Spreads französischer Unternehmensanleihen haben sich um etwa 20 bis 25 Basispunkte ausgeweitet, doch bleiben Anleger für Anleihen insgesamt optimistisch. Hauptgrund ist die Hoffnung auf weitere Zinssenkungen der EZB.
Wegen der derzeitigen Unsicherheit dürften die Spreads nicht so bald wieder ähnlich niedrig sein wie vor den Europawahlen. Der Vergleich mit Spanien zeigt, wo Frankreich derzeit steht. Kurzfristig hängt der Marktausblick von Wahlergebnissen, Konjunkturdaten und der Geldpolitik ab. Trotz der Kursverluste herrscht an den Credit-Märkten aber keine Angst. Die Fundamentaldaten der Emittenten sind gut, vor allem im Finanz-, Versorger- und Telekommunikationssektor. Eine Ausweitung der Credit Spreads könnte eine Kaufgelegenheit sein, sofern die Marktstimmung und nicht etwa schwächere Fundamentaldaten der Grund sind. Seit der Neuwahlankündigung liegen französische Aktien hinter anderen wichtigen Aktienmärkten zurück.
Alessandro Tentori, Europe CIO, Core Investments
Die derzeitige Lage lässt mich sofort an Italien im Jahr 2018 denken. Damals war das italienische Parlament gespalten. Die Fünf-Sterne-Bewegung war die größte Fraktion, die Mitte-rechts-Allianz das größte Parteienbündnis. Man bildete eine Koalitionsregierung mit Mario Conte als Ministerpräsidenten, getragen von den Fünf Sternen und Matteo Salvinis Lega. Sie hatte es nicht leicht. Salvini stritt sich mit Europa über die Einwanderungspolitik, und weil die Fünf Sterne eine sehr teure Grundsicherung einführen wollten, fürchtete man um die Staatsfinanzen.
Ganz anders verhält es sich mit der derzeitigen Regierung von Giorgia Meloni. Heute könnte Italien 230 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU investieren. Alle Parteien, auch Melonis Fratelli d’Italia, wollen dieses Geld. Anders als 2018 ist der Anreiz daher heute groß, es sich mit Europa nicht zu verderben. Der Vergleich zeigt deutlich, dass Unsicherheit große Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft haben kann.
Wie leicht die Regierung Meloni ihre Politik durchsetzen kann und ob sie ihre Haltung ändert, wird auch von der Zusammensetzung der Europäischen Kommission abhängen – und davon, ob Italien einen wichtigen Kommissarsposten erhält. Das würde als Sieg Melonis gelten. In der Innenpolitik wird sich meiner Meinung nach unterdessen nur wenig ändern. Italien scheint mit der Regierung zufrieden, auch wenn sie bei manchen Themen, die nicht direkt mit der EU zu tun haben, Rückzieher machen musste. Das gilt etwa für die Außen- und Einwanderungspolitik.
Gilles Guibout, Head of Equity Europe
Die Marktreaktion auf die Ankündigung vorgezogener Parlamentswahlen in Frankreich kam nicht wirklich überraschend. Investoren bauten Risiken ab, da unerfreuliche Entwicklungen denkbar schienen. Man trennte sich von Unternehmen mit einem starken Engagement in Frankreich, vor allem, wenn sie von der französischen Binnenkonjunktur abhängig sind. Das gilt etwa für Banken oder regulierte Energieunternehmen wie Vinci und Engie. Die Marktreaktion könnte aber übertrieben gewesen sein, da unterschiedliche Wahlergebnisse vermutlich auch unterschiedliche Auswirkungen haben, vor allem auf Steuern und Arbeitskosten.
Manche Aktien aus regulierten Branchen könnten zu stark eingebrochen sein. Zwar wollen Rechte wie Linke Autobahnen verstaatlichen, doch dürften Unternehmen wie Vinci und Lafarge davon kaum betroffen sein. Es würden hohe Entschädigungszahlungen fällig, und die Unternehmen könnten auch außerhalb Frankreichs investieren. Die verständlichste Sorge der Investoren betrifft den Bankensektor, der stark auf Konjunktur und Zinsen reagiert. Erst wenn wir genauer wissen, wie ernst die neue Regierung die Haushaltskonsolidierung nimmt, könnte die Marktvolatilität wieder nachlassen. Wir haben daher unser Engagement im Bankensektor leicht verringert und erwägen selektive Anlagen in Titeln, die unter dem generellen Kurseinbruch besonders stark gelitten haben.
Durch den jüngsten Kurseinbruch sind die beginnenden Neuanlagen in europäische Aktien wieder zum Erliegen gekommen, und manchmal wurde sogar Kapital abgezogen. Dennoch bleiben europäische Unternehmen wegen ihrer weltweiten Aktivitäten attraktiv. Sie erzielen etwa 60% ihres Umsatzes außerhalb ihrer Heimatmärkte und etwa 25% in den USA. Das macht sie international wettbewerbsfähig. Trotz aller Unterschiede zwischen den Einzelwerten werden europäische Aktien meist mit einem Abschlag gegenüber vergleichbaren Titeln aus anderen Ländern gehandelt. Das könnte sie interessant machen.
Rechtliche Hinweise