Wie krank?
- Wir werfen einen genauen Blick auf die Herausforderungen und die politische Landschaft in Deutschland.
- Wir halten die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB ihre Zinsen diese Woche anhebt, noch immer für etwas höher als 50%.
Nachdem der Economist am 19. August auf seinem Titelblatt Deutschland wieder einmal den „kranken Mann Europas“ genannt hat, macht jetzt der Spiegel-Artikel „Frankreich – das bessere Deutschland“ die Runde. Wir haben uns die Herausforderungen Deutschlands genauer angesehen und die Lage mit der in Frankreich und anderen großen Euroraum-Volkswirtschaften verglichen.
Zum Teil ist die Schwäche Deutschlands darauf zurückzuführen, dass hier einige Sektoren besonders wichtig für die Wirtschaft sind, die zurzeit überall in Europa Probleme haben, beispielsweise die Automobilindustrie und energieintensive Fertigungsbranchen. Die Energiepreise sind zweifellos eine Hürde, und neben den sektorspezifischen Schwierigkeiten hat es die gesamte deutsche Industrie derzeit schwer. Das Land verliert im Ausland Marktanteile. Das ist für eine so exportorientierte Wirtschaft ein echtes Problem und zeigt, dass die Schwäche Chinas nicht das einzige Hindernis ist. Auch der starke Anstieg der Arbeitskosten ist wenig hilfreich, aber der betrifft alle Euroraum-Länder. Vermutlich schlimmer ist, dass sich die deutschen Unternehmen gemäß den Umfragen als weniger wettbewerbsfähig wahrnehmen. Möglicherweise werden deutsche Produkte nicht nur aufgrund der wegen hoher Energie- und Arbeitskosten höheren Preise an Attraktivität verlieren.
Die Auswirkungen der politischen Entscheidungen sind heute andere als vor 20 Jahren, als Deutschland schon einmal als der „kranke Mann Europas“ bezeichnet wurde. Auch dieses Mal wären niedrigere Löhne von Vorteil, um das Problem der hohen Inflation im Euroraum in den Griff zu bekommen, aber gegen den Exportrückgang würden sie nicht helfen. Geringere Energiekosten wären ebenso ein guter Schritt wie die Förderung von Forschung & Entwicklung und Innovationen, aber die zurzeit diskutierten Lösungen sind angesichts der politischen Struktur der Regierungskoalition schwer durchzusetzen. Deutschlands Haushalt lässt eine Lösung der Probleme des Landes zu, aber die politischen Bedingungen stehen dagegen.
Diese Woche werden sich vermutlich alle Augen auf die Sitzung des EZB-Rats richten. Wir erläutern heute, warum wir die Wahrscheinlichkeit, dass die Zentralbank am Donnerstag ihre Zinsen – ein letztes Mal in diesem Zyklus – erhöht, nach wie vor für etwas höher als 50% halten.
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