Glückliche Tage? Oder ein trügerischer Sommer?
Sollte man wieder optimistisch sein? Oder sich zumindest nicht mehr so viele Gedanken über die Übel dieser Welt machen? Corona scheint lange vorbei, die Inflation war wohl vor allem ein Angebotsschock, der jetzt ausläuft, und die Zinserhöhungen dürften bald enden. In einem Jahr könnte es dann heißen, dass der Fed unter Jerome Powell wieder einmal eine weiche Landung gelungen ist. Die letzten Jahre mögen schwierig gewesen sein, aber die Zukunft scheint spannend. Die Energiewende und die nächste technologische Revolution könnten für Investoren große Chancen sein. Statt schwache Technologieaktien zu fürchten, freut man sich vielleicht über die Aufholjagd von Konsumwerten. Am Markt rechnet man mit enormen Gewinnen durch Künstliche Intelligenz (KI) und verwandte Technologien, aber vielleicht erleben wir auch eine klassische Erholung von Zyklikern. Man sollte es sich genau überlegen, ob man wirklich dagegen wetten will. Kurzfristig sind die Notenbanken aber noch immer auf die Inflation fixiert. Das könnte den Optimismus noch etwas bremsen.
Leitzinsmaximum
Eine echte Baisse entsteht fast immer durch eine straffere Geldpolitik. Kurzfristige Verluste können aber auch andere Ursachen haben; man denke etwa an den Beginn der Pandemie. Wirklich langfristig und massiv kann aber vor allem die Geldpolitik schaden. Wenn die Notenbanken die Zinsen anheben, fallen meist die Kurse. So war es auch letztes Jahr. Doch jetzt rechnen die meisten Anleger damit, dass die Zinserhöhungen im Wesentlichen vorbei sind. Vielleicht bestätigt sich das, wenn die Fed auf der Offenmarktausschusssitzung am 14. Juni auf einen erneuten Zinsschritt verzichtet. Der Markt schätzt die Wahrscheinlichkeit einer Erhöhung nur noch auf 40%.
Und doch kann es bis zum Zinsmaximum noch dauern. Sowohl die Reserve Bank of Australia als auch die Bank of Canada haben ihre Leitzinsen diese Woche um weitere 25 Basispunkte angehoben. Die Begleitrhetorik war scharf, vor allem in Kanada. Ich bin sicher, dass die Kerninflation in den nächsten Monaten nachlässt, aber die Notenbanken wollen kein Risiko eingehen. Noch immer ist die Konjunktur so stark, dass es gute Argumente für weitere Zinserhöhungen gibt. Das ist das größte kurzfristige Risiko für die zurzeit gute Stimmung an den Aktienmärkten.
Was wäre, wenn …?
Wenn die Fed die Zinsen unverändert lässt, wird man am Markt aber glauben, dass es das jetzt gewesen ist. Die Kurse werden entsprechend steigen. Nach dem Ende der Zinserhöhungen fallen meist die Anleihenrenditen. Seit November lag die Zehnjahresrendite stets zwischen 4% und 3,25%, die jetzt vielleicht unterschritten werden. 2023 kann noch immer ein Anleihenjahr werden.
Höhere Zinsen, niedrigere Erträge
Bei steigenden Zinsen rechnet man mit weniger Wirtschaftswachstum. Rezessionen werden meist dadurch ausgelöst, dass die Notenbanken die Geldpolitik straffen, auch wenn nicht jeder Zinserhöhungszyklus in die Rezession führt. Credits und Aktien leiden unter einer Rezession, weil die Unternehmen dann weniger Geld verdienen, ihre Bonität nachlässt oder sie vielleicht sogar aufgeben müssen. Nach einer Preisblase ist die Korrektur noch schlimmer. So war es nach der Dotcom-Blase zu Beginn des neuen Jahrtausends und nach dem Subprime-Debakel, das 2008/2009 eine weltweite Finanzkrise auslöste. Die Zinsen stiegen, und die Blasen sind geplatzt.
Preisblasen
Vielleicht liege ich falsch, aber ich sehe zurzeit keine echten Anzeichen für Preisblasen (einmal abgesehen von West Ham United). Die Verschuldung ist nicht übermäßig hoch. Im Gegenteil – dank des starken nominalen Wirtschaftswachstums konnten die Unternehmen Schulden abbauen. Auch sind die Märkte keineswegs übertrieben euphorisch. Eher schon glaubt man, dass eine Rezession nur eine Frage der Zeit ist. Dann würden die Ausfallquoten steigen und die Aktienkurse erneut fallen – ein klassischer Double-Dip. Es strömt auch nicht übermäßig viel Geld in den Markt – den Daten zufolge mussten Aktienfonds dieses Jahr sogar Abflüsse hinnehmen. Investiert wurde vor allem in Geldmarktfonds und hochverzinsliche Kurzläufer. Cash is King (oder Queen) – daran hat sich nichts geändert. Dabei lassen sich viele Gründe für Pessimismus finden: steigende Zinsen, der Kampf gegen die Inflation, Wertpapierverkäufe der Notenbanken, weltpolitische Spannungen und die geringe Markbreite bei Aktien. Aber die Unkenrufe verhallen (oder werden ins Leere getwittert). Der Markt will es nicht hören.
Hausse?
Viele mögen es anders sehen, aber es gibt durchaus Gründe für Optimismus. Corona, Inflation und Zinserhöhungen sind vorbei, und die Pandemie hat die Arbeitsmärkte flexibler gemacht. Die Unternehmen rechnen nicht mit deutlichen Umsatzrückgängen. Die OECD hat diese Woche zwar eine schwächere Weltkonjunktur prognostiziert, aber keine Rezession. Auch scheint es erste Anzeichen für Tauwetter zwischen den USA und China zu geben, und je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto weniger gilt Russland als Bedrohung.
Einzigartige USA
Den USA droht kein Zahlungsausfall mehr. Nachdem diese Gefahr vorbei ist, sollte man die USA als das ansehen, was sie wirklich sind: die dynamischste Volkswirtschaft der Welt, mit dem größten Langfristpotenzial für Investoren. China ist sicherlich ein Konkurrent, aber die jüngsten Zahlen waren enttäuschend. Auch die ungünstige Demografie macht es recht unwahrscheinlich, dass China langfristig die Oberhand gewinnt. Die gute Performance amerikanischer Mega Caps, hoch kapitalisierter Technologieaktien, zeigt eindrucksvoll, dass die USA trotz aller Kritik am politischen System etwas Besonderes sind. Vor einigen Wochen schrieb ich, dass die Gewinne des S&P 500 in diesem Jahr ausschließlich dem Technologiesektor zu verdanken seien. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert. Titel wie NVIDIA und Apple stiegen auf neue Rekordhochs, und immer häufiger heißt es, dass die KI ein neues Technologiezeitalter einläuten werde. Diese Woche gab es allerdings einzelne Hinweise darauf, dass die Mehrerträge von Technologieaktien erst einmal vorbei sein könnten, weil andere Sektoren jetzt aufholen. Der Mai war ein guter Monat für Industrie- und Konsumgebrauchsgüterwerte.
Die Roboterfrage
Ist KI eine Preisblase? Wer in Aktien investieren will, möchte sich in KI engagieren, direkt oder indirekt. Zugleich wird viel darüber diskutiert, ob die KI-Forschung reguliert werden müsse. Werden Maschinen am Ende intelligenter sein als Menschen und unsere Existenz bedrohen? Für mich ist die Frage eher, wie man KI-Aktien bewerten soll. Denken Sie an die vielen Chancen und Risiken. Wenn KI weitere Fortschritte macht und in den unterschiedlichsten Sektoren und Branchen genutzt wird, verspricht dies enorme Wohlstandsgewinne. Könnte KI nicht die Krebsfrüherkennung verbessern? Oder zum Klimaschutz beitragen, durch die Optimierung von Elektrizitätsnetzen, energieeffizientere Gebäude und klimafreundlichere Verkehrssysteme? Was wäre, wenn KI das Artensterben begrenzte – durch intelligentere Landnutzung, höhere Ernteerträge und eine umweltfreundlichere Abfallwirtschaft? Ich kann hier nicht auf alles eingehen, aber eine schnelle Google-Suche zeigt die Vielfalt der Möglichkeiten. Dazu zählen Automatisierung, Verkehr, Gesundheit, Lebensmittelproduktion, Bildung, Marketing, Rechtswesen, Unterhaltung und Sicherheit. Das neue VR-Headset Vision Pro von Apple zeigt beispielhaft, welches kommerzielle Potenzial die Verbindung von KI und virtueller Realität hat. Es bietet sehr viel mehr als soziale Medien, Unterhaltung und Produktivitätsgewinne.
Risiken
Natürlich gibt es Risiken. Lernende Maschinen können auch für weniger ehrenhafte Ziele genutzt werden. „Böse“ Roboter könnten zu Kriegswaffen werden, Terroranschläge verüben und Freiheit und Demokratie schaden. Darüber schrieb George Soros diese Woche auf der Website Project Syndicate (hier). Er forderte die Politik auf, die KI-Forschung schnell zu regulieren. Alle großen Anbieter müssten dann mitmachen. Der amerikanische Kongress hat den Technologiesektor schon vorher ins Visier genommen. Wegen der Risiken dürfte KI zweifellos zu einem großen politischen Thema werden.
KI bewerten?
Es ist unmöglich, den Kapitalwert von KI zu berechnen – also die Differenz aus künftigem wirtschaftlichem und sozialem Nutzen und Risiken. Als geborener Optimist glaube ich gerne, dass der Nutzen die Kosten überwiegt, wie bisher bei allen technologischen Revolutionen. Die Kursgewinne amerikanischer Technologieaktien in den letzten Wochen und die gute Performance koreanischer und taiwanesischer Titel sprechen dafür, dass es immer mehr Investoren genauso sehen – zumindest so lange, bis die Risiken klarer zutage treten. Doch selbst dann würde die Regulierung die legale Nutzung von KI in der Wirtschaft nicht stoppen. Wäre es nicht denkbar, dass die USA dank der KI-Revolution der Rezession entgehen und sich die Bären enttäuscht zurückziehen müssen – selbst wenn in vielen Branchen noch immer fallende Gewinne befürchtet werden? In den nächsten Wochen halte ich durchaus noch schwächere Zahlen für möglich. Der US-Arbeitsmarkt könnte ebenso nachgeben wie der Wohnimmobilienmarkt. Bislang hat die US-Wirtschaft auf die um 500 Basispunkte höheren Leitzinsen aber noch nicht so reagiert, wie man es kennt. In den letzten Wochen haben positive Gewinnrevisionen der Analysten sogar überwogen – am Aktienmarkt insgesamt und ganz sicher im Technologiesektor. Nach den beiden starken Jahren von Mitte 2020 bis Mitte 2022 scheinen es Industriewerte jetzt etwas schwerer zu haben, aber selbst Indikatoren wie der Auftragseingangsindex des Institute for Supply Management scheinen den Tiefpunkt bald erreicht zu haben.
Zugegeben – es fällt schwer, optimistisch zu sein, wenn das Geldmengenwachstum einbricht, unterdurchschnittliches Wirtschaftswachstum prognostiziert wird und weltweit eine restriktivere Fiskalpolitik als notwendig gilt. An den Märkten gibt es aber immer dunkle Wolken. Vielleicht sind wir gerade dabei, die Lage neu einzuschätzen. Einige der großen Übel liegen hinter uns. Die Inflation wird nachlassen, und die Notenbanken blasen zur Wende. Viele Investoren wünschen sich aber vielleicht gar keine weiche Landung. Vielleicht schadet es ihnen vielmehr, wenn die Kurse weiter steigen. Darüber sprach ich letzte Woche mit einem guten Geschäftspartner bei einer Investmentbank. Schlechte Zeiten für Leerverkäufer?
Rechtliche Hinweise