Russischer Bär(enmarkt)
Der russische Einmarsch in der Ukraine ist für die Weltwirtschaft vor allem wegen der Unterbrechung der Versorgung mit Energie und anderen Rohstoffen negativ. Dies geschieht noch bevor wir alle Versorgungsprobleme im Zusammenhang mit dem Coronavirus korrigiert haben. Die Reaktion der Politik auf die Pandemie war für die Märkte positiv, doch es ist unklar, wie die Politik jetzt eine solche positive Reaktion wiederholen kann. Möglicherweise muss sie eher defensiv reagieren. Es könnte sein, dass die Zentralbanken ihren Zinspfad anpassen müssen. Dies würde einen weiteren Anstieg der Anleiherenditen hinauszögern und den Aktienmärkten, die wahrscheinlich mit Gewinnrückgängen konfrontiert werden, etwas Unterstützung bieten.
Ökonomischer Ausblick
Einige der Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin waren erschreckend. Ob sie eine realistische Drohung darstellen, sein militärisches Abenteuertum noch weiter zu eskalieren, ist schwer zu beurteilen. Für Anleger sind sie jedoch eine Warnung, dass sich die Ereignisse hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die globalen Wirtschaftsaussichten und die Finanzmärkte noch verschlimmern könnten. Gegenwärtig beobachten wir einen negativen Schock für die Weltwirtschaft, der von einem weiteren Anstieg der weltweiten Energiepreise herrührt. Dies wird das Wachstum beeinträchtigen und die Inflation anheizen. Daher müssen die weltweiten Prognosen für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach unten korrigiert werden, und die Märkte müssen ihre Erwartungen in Bezug auf die Entwicklung der Zinssätze, das Kreditrisiko und die Unternehmensgewinne neu bewerten.
Energiemärkte
Die unmittelbare Bedrohung durch die Geschehnisse auf den Energiemärkten besteht darin, dass die hohen Erdgaspreise das Wirtschaftswachstum in Europa stark dämpfen werden. Gleichzeitig werden sich die steigenden Rohölpreise auf US-Verbraucher auswirken. Eine ernüchternde Beobachtung ist, dass jeder US-Rezession in jüngster Zeit ein starker Anstieg der Ölpreise vorausging oder sie begleitete. Die gute Nachricht ist vielleicht, dass die Ölpreise real (im Vergleich zur allgemeinen Inflation ohne Energie und Lebensmittel) immer noch weit unter dem Höchststand liegen, den sie 2006-2007 erreicht haben. Außerdem ist die US-Wirtschaft wahrscheinlich etwas weniger anfällig für Schwächen, die mit steigenden Ölpreisen zusammenhängen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Dennoch ist der starke Anstieg der nominalen Benzinpreise in Verbindung mit allgemein höheren Inflationsraten nicht gut für das bereits erschütterte Verbrauchervertrauen.
Zinserhöhungen
All dies erschwert die Aussichten für die Zentralbanken und die Entwicklung der Zinssätze. Für dieses Jahr sind immer noch sechs Zinserhöhungen der Fed eingepreist, auch wenn sich das Bild allmählich durch die Möglichkeit verdunkelt, dass angesichts der Wachstumsrisiken ein vorsichtigeres Vorgehen erforderlich sein wird. Unsere jüngsten Beobachtungen zur Form der Renditekurve gelten nach wie vor: Die Kurve ist flach und hat sich in den letzten Tagen weiter abgeflacht. Ein signifikanter und nachhaltiger Anstieg der langfristigen Anleiherenditen ist in den meisten Währungsräumen nicht eingepreist. Die Anleiherenditen sind von ihren Höchstständen entfernt. Solange keine Klarheit über den Fortgang des Krieges besteht, bezweifle ich, dass wir neue Höchststände sehen werden – es sei denn, die Zentralbanken signalisieren eindeutig, dass ihr einziger Fokus auf der Kontrolle der Inflation liegt. Das wäre eine schwierige Position in einer globalen politischen Krise mit deutlichen wirtschaftlichen Abwärtsrisiken. Auffallend ist, dass die Realrenditen in den USA am Donnerstag stark zurückgingen. Das hat den Aktienmarkt etwas entlastet und weist vielleicht auf eine Verschiebung der Markterwartungen bei der Frage hin, wie weit die geldpolitischen Bedingungen gestrafft werden können.
Inflation
Ein Teil der komplexen Aussicht für die Anleihemärkte besteht darin, herauszufinden, wo der Wendepunkt in Bezug auf die Inflation liegt. Eine höhere Inflation wird das Wachstum der Realeinkommen untergraben und die mittelfristigen Rezessionsrisiken erhöhen. Wenn die Zentralbanken aggressiv auf einen angebotsseitigen Inflationsanstieg reagieren, werden diese Rezessionsrisiken größer. Ein aggressiver Bilanzabbau scheint in diesem Umfeld nicht angebracht, und es könnte wieder Forderungen nach mehr fiskalischen Maßnahmen geben, um die negativen Einkommenseffekte des Energiepreisschocks abzumildern. Es wird keine Inflation geben, wenn die Zentralbanken die Wirtschaft abwürgen, und höhere Zinssätze führen klar nicht zu einem Anstieg des Gas- und Ölangebots.
Aktienmärkte
Wenn die Anleiherenditen niedrig bleiben, welche Aussichten gelten dann für Aktien? Wir haben einen sehr einfachen Bewertungsmaßstab, der die relativ neue Beziehung zwischen dem Kurs-Gewinn-Verhältnis und den Anleiherenditen betrachtet. Wenn die Zwölf-Monats-Konsensprognose für den S&P-500-Gewinn pro Aktie bei 227 US-Dollar pro Aktie bleibt und die Anleiherenditen unter zwei Prozent bleiben, liegt der Aktienmarkt bei einem Indexstand von etwa 4.170 zum „fairen Wert“, etwa 2,8 Prozent unter dem Schlusskurs vom Donnerstag, den 24. Februar. Für andere Märkte, wie den FTSE350 und den Euro Stoxx, liegen die aktuellen Marktstände bei diesem einfachen Ansatz sehr nahe am fairen Wert. Die große Unbekannte ist jedoch, ob die Gewinnzahlen für die nächsten zwölf Monate so bleiben, wie sie jetzt sind. Eine Senkung der Gewinnprognosen um zehn Prozent würde darauf hindeuten, dass Kurse unter 4.000 für den S&P gerechtfertigt sind.
Abwärtskorrekturen wahrscheinlich
Die Entscheidung, ob man die Aktienmärkte positiver sehen sollte, hängt also von der Abwägung zwischen attraktiveren Bewertungen und dem Risiko für das Gesamtwachstum der Unternehmensgewinne ab. Je länger der Krieg andauert und je länger die Energie- und anderen Märkte unter Druck bleiben, desto größer ist das Risiko niedrigerer Erträge und desto mehr Abwärtsrisiko besteht für die Märkte. In einem solchen Abwärtsszenario werden die Anleiherenditen wahrscheinlich wieder sinken und die realen Renditen in Richtung der Tiefststände des letzten Jahres zurücktreiben. In den kommenden Tagen und Wochen werden die wichtigsten Signale von den Geschehnissen vor Ort in der Ukraine ausgehen und davon, wie sich Russlands Strategie entwickelt, wenn und falls es die Kontrolle über den Donbass erlangen kann, und welche weiteren Vergeltungsmaßnahmen die internationale Gemeinschaft ergreifen wird.
Sanktionen
Bislang haben die Sanktionen nicht dazu geführt, dass der Kauf russischen Gases eingestellt oder Russland aus der SWIFT-Zahlungsinfrastruktur ausgeschlossen wurde. Für Ersteres gibt es einen offensichtlichen Grund, da Europa in hohem Maße von russischem Gas abhängig ist. Ein Ausschluss Russlands aus SWIFT würde einen großen Teil des internationalen Zahlungsverkehrs mit Russland, einschließlich der Zahlungen für Rohstoffe, zum Erliegen bringen – was sich dann eindeutig auf das westliche Wirtschaftswachstum auswirken würde. Dies würde auch die Fähigkeit und Bereitschaft Russlands verringern, seine Fremdwährungsschulden zu bedienen, was praktisch zu einem Zahlungsausfall führen würde. Nach einem starken Kursverfall im Gefolge der Invasion machen russische Anleihen derzeit nur ein geringes Gewicht in den meisten Anleiheindizes der Schwellenländer aus. Die Inhaber haben bereits einen enormen Verlust erlitten – rund 50 Prozent der Gesamtrendite. Eine Eskalation der Finanzsanktionen birgt zwar nicht die Gefahr einer Lehman-ähnlichen Bedrohung für das globale Finanzsystem, aber es wird Auswirkungen geben, mit denen sich die Zentralbanken und andere Behörden werden befassen müssen. Ich bin mir sicher, dass die Ankündigung von Sanktionen im „Bazooka“-Stil kurzfristige negative Auswirkungen auf Risikopapiere haben wird, aber die Bewertung ihrer längerfristigen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft wird komplex sein.
Weitergehende Fragen
Eine weitere Frage für die Anleger ist, wie sie mit der aktuellen Situation unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit umgehen sollen. Die meisten ESG-Strategien konzentrieren sich auf Unternehmen. Die Versuche, Staatsanleihen in einen ESG-Rahmen einzubinden, sind weniger weit fortgeschritten. Wenn wir jedoch das Scheitern des Engagements (Diplomatie) und die Auswirkungen des russischen Handelns (auf die Menschen, die Umwelt und die Regierungsführung) betrachten, dann gibt es sicherlich ein Argument dafür, Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die über das hinausgehen, was die offiziellen Sanktionen vorschreiben. Dies ist ein schwieriges Thema, da zahlreiche Länder als „schlechte“ Investitionen betrachtet werden könnten, wenn es um Fragen wie die Verpflichtung zu Netto-Null-Emissionen, die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte geht. Es bleibt zu hoffen, dass in diesem Fall der Druck der russischen Bevölkerung und der Mehrheit der internationalen Gemeinschaft in Verbindung mit dem Mut und dem Stoizismus des ukrainischen Volkes dazu führen wird, dass Russland seine politischen Ambitionen nicht durchsetzen kann und den Weg für eine andere Zukunft des Landes ebnet. Hoffen wir, dass bald Frieden einkehrt.
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