Risiko sticht Kasse
Vielen Anlegern fällt es schwer, sich vom Geldmarkt zu verabschieden. Aber die Tage hoher Geldmarkterträge könnten gezählt sein. Man spricht wieder über Zinssenkungen. Credits sind attraktiver als Kasse, wobei Kurzläufer den risikoärmsten Ausstieg aus dem Geldmarkt ermöglichen. Alles läuft in die richtige Richtung. Die Zins- und Kriegsrisiken haben nachgelassen, und einer weichen Landung der US-Wirtschaft steht nichts im Wege. Haben Sie Geduld – und bleiben Sie investiert!
Short-Positionen eindecken
Nach dem etwas holprigen April haben sich Risiken im Mai wieder gelohnt. Es war ein guter Monat für Langläufer, und manche Aktienindizes stiegen auf neue Allzeithochs. Die Weltlage scheint wieder stabiler, und eine straffere Geldpolitik ist unwahrscheinlicher geworden. Sowohl die Konjunkturdaten als auch die Äußerungen der Notenbanken lassen wieder auf Zinssenkungen noch in diesem Jahr hoffen. Selbst die berüchtigten Meme-Aktien sind zurück. Amerikanische Daytrader kauften zuletzt Aktien mit umfangreichen Short-Positionen, um deren Eindeckung auszulösen und dann von kräftigen Kursgewinnen zu profitieren. Man muss sich nur einmal die Kursentwicklung von Faraday Future Intelligent Electric ansehen, einem an der NASDAQ notierten Elektroautohersteller. Diese Woche legte das Papier an nur zwei Handelstagen um 1.300% zu. Faraday war eine der Aktien mit den größten Short-Positionen am Markt. Meme-Aktien, lange Duration, hohes Risiko – selbst Manchester United hat mal wieder gewonnen!
Man setzt wieder auf Zinssenkungen
Die Kursgewinne im Mai haben viel mit den neuen Zinserwartungen zu tun. Vorbei sind die Zeiten, als man höhere US-Leitzinsen befürchtete. Eine weiche Landung der US-Wirtschaft ist noch immer der wahrscheinlichste Fall. Im April sind sowohl die Verbraucherpreisinflation als auch ihre Kernrate (jeweils zum Vorjahr) noch etwas gefallen. Die Einzelhandelsumsätze waren eher niedrig, und auch der Arbeitsmarkt war schwächer als in den Monaten zuvor. Die Arbeitslosenquote ist im April auf 3,9% gestiegen – vor einem Jahr waren es noch 3,4%. Bloomberg TV berichtete ausführlich über die schwachen Konsumklimaindikatoren. Dabei steht ihre Aussagekraft in keinem Verhältnis zur Sendezeit.
Auch in Europa entwickelt sich die Inflation in die richtige Richtung. Im April berichteten die meisten Länder über eine stabile oder niedrigere Teuerung. Weil Energie jetzt sehr viel billiger ist als in den letzten zwei Jahren, dürfte die britische Inflationsrate im April deutlich niedriger sein als im März. Anleiheninvestoren wissen es zu schätzen, dass man wieder über Zinssenkungen spekuliert.
Spannender Juni
Hilfreich waren auch die Äußerungen der Notenbanken. Vertreter der Fed schlossen die Notwendigkeit höherer Leitzinsen aus, und die EZB bereitete die Märkte auf eine Zinssenkung im Juni vor. Die Bank of England äußerte sich weniger klar, doch könnten die jüngsten Aussagen von Notenbankchef Andrew Bailey ebenfalls eine erste Senkung im Juni andeuten. Bis zum Jahresende rechnet man am Markt jetzt mit zwei Zinssenkungen in den USA und hält im Euroraum sowie in Großbritannien auch mehr als zwei nicht für völlig ausgeschlossen.
Dieses Goldilocks-Szenario ist gut für die Märkte. Auch wenn das Umfeld wohl nicht immer so gut sein wird wie in den letzten Wochen, dürften risikobehaftete Titel weiter zulegen – zur Freude von Unternehmensanleihen- und Aktieninvestoren. Fallende Leitzinsen, moderates Wachstum und meist auch eine niedrigere Inflation – was will man mehr.
Rendite gleich Ertrag?
Für Anleiheninvestoren könnten bei diesem Ausblick Credits interessant sein, einschließlich High Yield. Die Spreads mögen zwar so eng sein wie nur selten in den letzten Jahren, aber die Gesamtrendite von Unternehmensanleihen ist attraktiv. Letztmals waren die amerikanischen Investmentgrade-Spreads Mitte 2021 so eng wie heute. Damals betrug die Indexrendite aber nur 1,9%, während es jetzt 5,4% sind. Nicht anders sieht es bei euro- und sterlingdenominierten Titeln aus. Ich kann es nicht oft genug sagen: Die Einstiegsrendite eines Credit-Portfolios mit x Jahren Duration dürfte im Großen und Ganzen dem jährlichen Gesamtertrag entsprechen, wenn auch die Haltedauer etwa x Jahre beträgt.
Zinsstrukturkurven ändern sich, aber langsam
Interessant ist die Durationsentscheidung. Die Leitzinsen haben ihr Maximum erreicht, und weitere Zinserhöhungen sind nahezu ausgeschlossen. Die Langfristrenditen – also die Renditen 10-jähriger Staatsanleihen – werden daher in nächster Zeit wohl kaum höher sein als in den ersten Monaten des Jahres. Das macht eine lange Duration jetzt weniger riskant. Auch deshalb waren lang laufende US-Staatsanleihen in diesem Monat bislang das ertragsstärkste Anleihenmarktsegment.
Allerdings dürften die Langfristrenditen auch kaum deutlich fallen. Die Inflation liegt noch immer über dem Zielwert, und die Geldpolitik wird nur langsam gelockert. Noch sind die Zinsstrukturkurven invers. Wenn sie flacher werden und irgendwann wieder eine positive Steigung haben, dann durch einen Rückgang der Kurzfristrenditen. Bei Staatsanleihen verzeichneten Kurzläufer bei steigenden wie bei fallenden Zinsen fast immer Mehrertrag gegenüber Langläufern. Ich habe die Indizes für 1- bis 3-jährige und für 7- bis 10-jährige Titel miteinander verglichen. Sowohl in den USA als auch in Deutschland und Großbritannien haben sich die Indizes mit der kürzeren Duration in den letzten zehn Jahren besser entwickelt als die Indizes mit der längeren. Wenn die 1- bis 3-Jahres-Renditen auf das Niveau der 7- bis 10-Jahres-Renditen fallen, dürfte man auch jetzt mit Kurzläufern mehr verdienen (sofern die Langfristrenditen nur wenig nachgeben).
Credits sind einfach gut
Wenn man 1- bis 3-jährige und 7- bis 10-jährige Credits vergleicht, ergibt sich ein etwas anderes Bild. In den USA lagen in den letzten zehn Jahren lang laufende Credits vorn. Anders als bei Staatsanleihen hatte die Zinsstrukturkurve von Unternehmensanleihen meist eine positive Steigung, sodass Langläufer höhere laufende Renditen boten. Bei euro- und sterlingdenominierten Titeln lagen Kurzläufer zwar in den letzten drei bzw. fünf Jahren vorn, aber nicht im gesamten Zehnjahreszeitraum – und auch nicht in den letzten zwölf Monaten.
Anleihen oder Geldmarkt?
Am interessantesten sind kurz laufende Unternehmensanleihen aber im Vergleich zum Geldmarkt. Die Geldmarktzinsen werden nicht weiter steigen, sondern in den nächsten zwölf Monaten fallen. Dann verdient man am Geldmarkt weniger, während die Anleihenkurse zulegen. Für eine Kurzläuferstrategie, deren laufende Rendite zurzeit der Geldmarktrendite entspricht, kann das nur gut sein. Bei Zinssenkungen sind hier Kursgewinne möglich, die durch einen weiteren leichten Rückgang der Credit Spreads vielleicht noch höher ausfallen.
Niedrige Volatilität, hohe Liquidität … und niemand verkauft
Die Frustration vieler Investoren mit hohen Kassebeständen kann ich gut verstehen. Sie haben eine Aktienmarktrallye und den Rückgang der Credit Spreads verpasst. Andererseits gibt es auch jetzt noch überzeugende konjunkturelle und strukturelle Gründe für den Einstieg oder die Beibehaltung vorhandener Positionen. Ein weiterer Zinsanstieg ist sehr unwahrscheinlich. Die Wirtschaftslage in den Industrieländern ist gut. An den Rohstoffmärkten herrscht Ruhe. Trotz immer neuer Rekordhochs entsprechen die Aktienbewertungen im Wesentlichen noch immer dem 3-Jahres-Durchschnitt (auf Basis der erwarteten KGV). Vielleicht ist alles zu gut, um wahr zu sein. Aber die Volatilität ist niedrig, sodass man Risiken günstig absichern kann. Der VIX ist auf ein 5-Monats-Tief gefallen, und CDS auf Crossover-Anleihen sind heute so günstig wie zuletzt Anfang 2022. Rechnen wir also mit einem guten Jahr.
Performancedaten/Quellen: Refinitiv Datastream, Bloomberg, Stand 16. Mai 2024, falls nicht anders angegeben. Die Wertentwicklung der Vergangenheit ist kein Hinweis auf künftige Erträge.
Rechtliche Hinweise